Tag 20 – Samstag :: Ein Verdacht

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In mir keimt ein Verdacht, der mir schwer fällt zu greifen. Also muss ich mal alles zusammenfassen, was ich bisher dazu in meinem Kopf gefunden habe.

Anfangen tut alles mit der Unfähigkeit mich im Unterricht zu konzentrieren. Als Jugendliche habe ich im Unterricht lieber gemalt / gezeichnet, weil ich so dem Unterricht besser folgen konnte. Das war nicht gern gesehen, wir sollten ja “zuhören” und mitschreiben. Heute kann ich mich an einzelne Seiten meines Schulplaners erinnern, aber nicht an den Stoff des Unterrichts. An die Jahre zwischen 7 und 13 habe ich nur ganz vage Erinnerungen, weshalb ich die nicht mit in Betracht ziehen kann. Im Studium habe ich dann oft Logiktrainer oder so mit den in die Vorlesungen genommen und mich dabei konzentriert gehalten. hat mehr oder weniger geklappt.

Irgendwann während der Schulzeit keimte in mir der Wunsch auf, Medizin studieren zu wollen. Das war gar kein einfaches Hirngespinst, aber mein Gehirn an sich hat da nicht mitgespielt. Dinge wie Chemie und Biologie wollten mir nicht verständlich in den Kopf. Ich lernte auswendig, verstanden habe ich nur wenig und auch heute noch fällt es mir schwer die Naturwissenschaften inhaltlich zu verstehen und zuzuordnen. Obwohl sie mich faszinieren und interessieren. Ich kann begeistert Dokumentationen schauen, aber ich merke mir nichts davon. Lese ich spannende Artikel, fällt es mir schwer über mehrere Seiten zu fokussieren, ich beginne zu überfliegen und kann hinterher kaum etwas wiedergeben. Geht vielen so, ich weiß, aber es beeinträchtigt mich sehr. Abgesehen davon, dass es mich einfach ärgert. Ich würde so gern wirklich mehr wissen. Ich arbeite umgeben von Quantenphysiker*innen, ich finde dieses Feld interessant, aber ich verstehe nicht einmal ansatzweise etwas davon. Egal wie sehr ich mich bemühe, ich kann darüber lesen oder mir was erklären lassen, es geht mir nicht in den Kopf. Im ersten Studium wollte ich sooooo gern die Welt der Mathematik verstehen. Aber so sehr ich mich auch bemühte, da waren Türen in meinem Kopf zu, zu denen ich einfach die Schlüssel nicht fand und bald frustriert aufgab. Ich dachte immer ich bin zu faul oder zu doof. In Wahrheit war ich nicht faul, nur unfähig, Dinge zu verstehen, so wie sie dort standen oder erklärt wurden.

Apropos Wissen. Ich will so unbedingt ganz viel lernen. Ich bin interessiert an ALLEM. Einen Tag denke ich, ich wäre wirklich gern Medizinerin, am nächsten würde ich gern psychologische Forschungen leiten. Dann wieder denke ich, dass Buchhändlerin genau mein Job wäre, wobei Filmvorführerin im Kino auch spannend wäre. Hat eine U-Bahnfahrerin es nicht gut in Ruhe da vorn in ihrer Fahrerkabine? Ich war schon Kellnerin, Bauingenieurin, Spielraumleiterin, Grafikerin, Kommunikationsverantwortliche und manchmal denke ich, Kellnerin war eigentlich wirklich ein lustiger Job. In Wahrheit wäre ich gern einfach nur Schriftstellerin und Künstlerin, in noch wahrerer Wahrheit bin ich das vermutlich auch, aber nicht in ausreichendem Maß. Ich beginne Ausbildungen, sobald mir eine spannende über den Weg läuft. Ich habe irgendwann begonnen Holzbau zu studieren und Psychologie. Habe beides wieder gelassen und finde beides heute noch spannend. Nicht immer am gleichen Tag, aber doch alternierend. Allein im Wald zu leben wäre toll, aber in einer riesigen Altbauwohnung in der Stadt fühlt es sich sicher auch gut an. Die Wohnung in der ich lebe, ist toll, aber es gibt auch tollere. Und irgendwann will ich sowieso wieder ganz woanders leben, in einer anderen Stadt, einem anderen Land….

Wenn ich irgendwo neue Ausbildungen sehe, die mich begeistern, bin ich meist angemeldet, bevor ich das bis zum Ende durchdacht habe. Meist komme ich am Ende der Ausbildung drauf, dass ich den Job, der damit einhergeht, gar nicht machen will (Montessoripädagogin, Piklerpädagogin, Grafikerin, Hypnosetherapeutin und aktuell Coachin zum Beispiel). Was ich will? Jeden Tag was anderes. Sie oben.

Und so, wie ich alles machen will, so hab ich auch tausende Ideen in meinem Kopf. Viele bewundern mich dafür und ich dachte auch immer, ich sei einfach nur kreativ. Aber in Wahrheit (und heute ist der Tag der Wahrheiten hier), führe ich die wenigsten bis zum Ende aus. Schlimmer noch, wenn mich eine neue Idee packt und begeistert, dann kippe ich da voll rein und lasse alle anderen links liegen. Manche sterben dann einfach ab, andere überschlafen eine gewisse Zeit. Manche Ideen ziehe ich wirklich durch, zumindest den Großteil. Wenn es dann an den letzten Feinschliff geht, verliere ich völlig die Geduld und das Interesse. So veröffentliche ich Bücher, die nicht bis zum Ende durchlektoriert sind, ich überprüfe nicht mehr auf kleine und größere Fehler sondern schicke ab, was da ist, veröffentliche oder stelle ins Regal, woran ich wochenlang gearbeitet habe (Kunstwerke zum Beispiel). Ich ärgere mich dann über diesen unsauberen Endschliff, kann mich aber nicht mehr aufraffen, das noch zu Ende zu bringen. Nur selten überlese ich einen Blogartikel hier nochmal. Meine Podcasts veröffentliche ich ungeschliffen, wobei das dort auch ein Statement ist.

In meiner virtuellen Schublade liegen mindestens 3 Buchprojekte, alle von 1/4 bis 3/4 fertig. Keines davon bis zum Ende durchdacht, weil mir diese Planung und das zu Ende denken absolut unmachbar scheint. Auch hier stehe ich oft wie die Kuh vorm Uhrwerk. Ich würde das gern alles gut durchplanen, aber ich weiß weder wo anfangen noch wo aufhören. Es hat nichts mit dem kreativen Prozess des Schreibens zu tun und deshalb interessiert es mich nicht. Ich bin keine Projektmanagerin, allein das Wort Managerin stresst mich. Bei richtig großen Projekten wie so manchen Online Kursen von mir, verliere ich mit der Zeit das Interesse und den Faden. Ich ziehe sie dann durch, sie stressen mich bis zum letzten Tag und ich mache grundsätzlich dabei viele Fehler. Schicke Emails nicht oder falsch raus, hänge falsche Dokumente an, verwechsele die Videos dazu. Ich bin froh, wenn die Kurse abgelaufen sind und sich niemand beschwert. Mit jedem neuen Kurs nehme ich mir vor, dass dieses Mal besser zu machen und dann… you know.

Ich habe neulich eine neue Webseite beantragt und dabei gesehen, wie viele Webseiten ich in meinem Leben schon beantragt habe (und wie viele noch laufen). Immer mit neuen Ideen und neuen Projekten dazu in meinem Kopf, die ich dann alle nicht oder nur teilweise umgesetzt habe. Ich gehe auch immer sofort raus mit allem, nur um dann gegen die immer gleiche Mauer zu rennen. Das Strukturieren und Organisieren von diesen Projekten und Ideen.

Im Job fällt es mir schwer mich zu organisieren. Mein Laptop stellt das reinste Chaos dar. Ich habe Ordner, finde aber selten die gesuchten Dateien dort, wo ich sie vermute. Dinge wie – Downloads in den entsprechenden Projektordner zu schieben, damit ich sie später wiederfinde, erscheinen mir zu mühsam, ich lasse sie und finde sie dann nicht mehr, habe Chaos im Downloadsordner und kann manches nicht mehr zuordnen. Immer in der Hoffnung, dass das nie mehr jemand braucht. Gut, dass ich keine lebensnotwendigen Projekte leite.

Wenn ich an einem Tag mehr als einen Termin habe, kann ich abends vorher nur schwer einschlafen, weil mich das stresst. Ich habe sowieso das Problem mich zu organisieren. Es bleiben dann oft ganz banale Tätigkeiten liegen, damit diese Termine gut über die Bühne gehen. Apropos normale Tätigkeiten. Ich kann gut die Wäsche sortieren und drei Ladungen anwerfen. Sie wieder aus den Maschinen (wir haben zwei im Keller) zu befreien und auch noch aufzuhängen, erfordert viel Energie. Manchmal muss ich sie nochmal waschen, weil ich sie schlichtweg vergesse. Kennt jeder, ich weiß. Aber es nervt gewaltig, weil es meiner Ansicht nach in übernormalem Ausmaß passiert. Wenn ich vom Einkauf zurückkomme, kann es sein, dass die Lebensmittel bis abends, manchmal bis zum nächsten Tag im Rucksack schlafen. Manches musste ich wirklich schon entsorgen, weil ich vergessen hatte, es gleich in den Kühlschrank zu räumen.

Manchmal habe ich das Gefühl ich sei einfach stinkfaul, aber in Wahrheit kosten mich diese kleinen banalen Tätigkeiten viel Kraft und Energie. Und damit das Gefühl zu haben, ich wäre einfach nur unfähig und alle anderen würden das locker schaffen, stresst mich noch mehr.

Wenn ich die Wohnung aufräumen und putzen will, beginne ich immer an derselben Stelle, verliere mich dann unterwegs, weil ich irgendwas wegräume und mir etwas begegnet, was ich ja auch noch machen wollte und plötzlich sitze ich da und schaue mir die Zeugnisse aus meiner Kindheit an. Warum ich es nicht schaffe in Ruhe das Bad zu putzen, wenn ich einfach nur das Bad putzen will, habe ich noch nie verstanden. Ich lande grundsätzlich ganz woanders ohne dass das Bad komplett geputzt wäre. Dabei hätte ich gern mal alles komplett sauber.

Körperlich bin ich extrem unruhig. Was komisch ist, weil ich ein Mensch bin, der sehr sehr sehr viel Ruhe braucht. Wenn die Kinder um mich herum sind, gelingt mir das gar nicht. Ich bin dann immer völlig getrieben und renne durch die Wohnung wie ein Flummi. Bis ich völlig erledigt von all den o.g. begonnenen Tätigkeiten aufs Sofa falle. Ich ertrage den Lärm nicht, den Kinder machen oder auch Erwachsene, die laut reden. Mein Tinnitus ist Lärm genug. Ich sehne mich nach Ruhe und Nichtstun, aber ich kann nur sehr schwer einfach dasitzen und nichts tun. Es fallen mir dann immer unzählige Dinge ein, die ich tun will oder sollte. Wenn ich Serien schaue, muss ich nebenbei etwas tun, manchmal häkel ich oder ich daddel nebenbei auf dem Handy herum, was mich eigentlich extrem ermüdet. Wenn ich ein Buch lese, wechsle ich oft die Liege- oder Sitzposition. Apropos. Ich kann nur schwer in einer Position sitzen. Besonders aufgefallen ist mir das bei der Piklerausbildung. Da saßen wir zu jedem Modul 3 Tage lang in einem Raum auf Pölstern am Boden. Ich wechselte alle paar Minuten die Haltung und Sitzposition und irgendwann fiel mir auf, dass ich die einzige war, die da nicht einfach mal in Ruhe sitzen konnte. Im Kino wechsele ich sehr häufig von zurückgelehnt auf nach vorn gebeugt.

Wenn ich all das aufschreibe, klingt es sogar für mich sehr stressig. Aber das ist die geballte Ladung. Viele Menschen halten mich für stark und voller Tatendrang, weil ich nach außen hin so viel mache. In Wahrheit mache ich gar nicht alles fertig bzw. überfordere ich mich selbst damit. Während mich andere bewundern, bewundere ich die, die einfach so ganz in Ruhe bei einer Sache bleiben und nicht so mitgerissen sind von neuen Ideen wie ich. Ich könnte jeden Tag neue Online Kurse kaufen und mich neuen Hobbys widmen, neue Challenges ausprobieren und neue Fähigkeiten lernen. Ich möchte gar nicht wissen, wie viel Geld ich für Online Kurse in meinem Leben schon ausgegeben habe. Und wieviel für Ausbildungen. Klar, ich lerne dabei viel, aber ich habe dennoch das Problem, dass ich nicht weiterkomme im Leben, weil ich mich immer frage, was es eigentlich ist, was ich tun will. Und was ich wirklich tun will, schaffe ich nur schwer, weil ich mich so schlecht auf diese eine Sache konzentrieren kann. Das Schreiben. Weil ich die Buchprojekte nur schwer planen kann.

Das Bloggen hier hilft mir derzeit wieder sehr. Es ist ein Ventil und ich kann hier jeden Tag drauflostippen. Vielleicht ist das meine Welt. Wer weiß.

Ich bin dauerhaft getrieben und fühle mich leer, wenn mich nicht gerade eine Challenge beschäftigt oder eine neue Herausforderung. Und dass das schon immer so war, wird mir erst jetzt bewusst. Gleichzeitig bin ich völlig antriebslos und kann mich nur schwer aufraffen etwas zu unternehmen, unter Menschen zu gehen, Ausflüge zu machen. Innere Unruhe gepaart mit Antriebslosigkeit, die sich schnell in “Mit mir stimmt was nicht” und depressiver Stimmung / schlechtem Gewissen äußert, ist wohl mit die schwierigste Kombination, die ich dauerhaft durchlebe.

Ich habe in den letzten Tagen viel über ADHS/ADS gelesen und so wie es aussieht, bin ich mein Leben lang davon betroffen, ohne es gewusst zu haben. Ich habe es vor einigen Jahren schon einmal befürchtet, bin dann aber, weil die Erschöpfung im Vordergrund stand, wieder davon abgekommen. Was absurd ist, weil die Erschöpfung ja auch damit zu tun hatte. Nun bin ich auf der Suche nach geeigneten Experten, die sich das bei und mit mir anschauen. Das ist mir wichtig, weil ich da Ähnlichkeiten beim großen Sohn sehe. Und ich möchte nicht, dass auch er sein Leben lang herumirrt und glaubt mit ihm würde etwas nicht stimmen und er wäre unfähig, weil alle ihr Leben auf die Reihe kriegen, nur er nicht. Denn ja, diese Gedanken treiben mich um und sie sind schmerzhaft. Nach außen sieht man das nicht, nach außen habe ich alles super im Griff hier. Aber in mir drin habe ich nichts im Griff, bin dauerhaft überfordert und fühle mich unorganisiert, frage mich, wie andere das auf die Reihe kriegen und Ziele und Dinge erreichen, die sie sich vornehmen, während ich immer wieder an einer neuen Ecke anfange Bäume zu fällen, während hinter mir der halbe Wald schief steht.

Wer sich angesprochen fühlt hier, der/die darf mir gern schreiben und erzählen, wie es ihm/ihr geht. Ich lerne gerade, dass ADHS/ADS (bei mir ist es wohl eher ADS) sehr unterschiedlich ausgeprägt und komplex ist. Aber ich habe jetzt schon so viele Comics und Erfahrungsberichte gelesen, bei denen ich dachte: “oh my god, DAS ist das. DESHALB!”, dass ich denke, dass es auch hier wichtiger ist darauf aufmerksam zu machen, dass es etwas ganz anderes ist als laute wilde Buben, die den Unterricht stören. Ich habe auch gelesen, dass es Frauen eben anders betrifft, weil sie ihr halbes ganzes Leben damit verbringen ein Rollenbild zu bedienen, was ihnen aber schwer fällt und sie sich damit einfach nur falsch fühlen. Was dazu führt, dass sie sich – wie ich mein Leben lang – zurückziehen, distanzieren und ihren Selbstwert unter der Teppichkante suchen. Hinzu kommen die Hormone, die sich auf Stimmungslagen und Launen auswirken, eben anders als bei Männern.

Also lerne ich und lese ich, weine viel, weil ich so viel erkenne und gern früher gewusst hätte. Und hoffe, dass ich damit bald auch neue Strategien und Hilfestellungen finde, die ich im Alltag einbauen kann, damit ich mit all dem besser umgehen kann.

Und jetzt brauche ich dringend eine Pause im Kopf.

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